Freitag, 28. August 2009

De hominis natura

oder: Was einmal am Fuße der Karriere-Leiter geschah

Es war einmal in Santiago ein Dechant, der war begierig, die Kunst der Magie zu erlernen. Er hörte sagen, daß keiner sich besser auf sie verstünde als Don Illán von Toledo und begab sich nach Toledo, um ihn aufzusuchen.
Gleich am Tage seiner Ankunft lenkte er seine Schritte zum Hause Don Illáns und fand ihn lesend in einer abseits gelegenen Behausung. Dieser empfing ihn liebenswürdig und sagte ihm, er möge ihm erst nach Beendigung des Mittagsmahls den Anlaß seines Besuches bekanntgeben. Er wies ihm ein sehr kühles Gemach an und sagte ihm, er freue sich herzlich über sein Kommen. Nach dem Essen trug ihm der Dechant die Ursache seines Besuches vor und bat ihn, er möge ihn die magische Wissenschaft lehren. Don Illán sagte ihm, er habe sich gedacht, daß er Dechant sei, ein Mann in guter Stellung und mit guten Zukunftsaussichten, und er befürchte sehr, alsbald von ihm vergessen zu werden. Der Dechant versprach und versicherte ihm, daß er diese seine Gunst nie vergessen und ihm stets zu Diensten sein werde. Nachdem die Sache hiermit geregelt war, erklärte Don Illán, daß sich die magischen Künste nur an einem abgeschiedenen Ort erlernen ließen, und indem er ihn bei der Hand nahm, führte er ihn in ein Nebengemach, in dem sich am Boden ein großer eiserner Ring befand. Vorher sagte er zu der Dienstmagd, sie solle füe den Abend Rebhühner zubereiten, aber nicht eher zum Braten an den Spieß stecken, bis es ihr befohlen würde. Sie hoben den Ring mit vereinten Kräften auf und stiegen eine wohlgefügte Steintreppe hinunter, bis es dem Dechanten schien, sie wären so tief hinabgestiegen, daß sich das Bett des Tajo zu ihren Häuptern befand. Am Fuß der Treppe war eine Zelle und dann eine Bibliothek und dann eine Art Kabinett mit magischen Gerätschaften. Sie sahen die Bücher durch und waren hiermit gerade beschäftigt, als zwei Männer eintraten mit einem Brief für den Dechanten, geschrieben von dem Bischof, seinem Oheim, in dem er ihn wissen ließ, er sei sehr krank, und wenn er ihn noch lebend antreffen wolle, dürfe er nicht säumen. Dem Dechanten war diese Mitteilung sehr zuwider, einmal, weil es ihm um seinen Oheim leid tat, aber auch, weil er seine Studien unterbrechen mußte. Er entschloß sich, einen Entschuldigungsbrief zu schreiben, und schickte ihn dem Bischof. Drei Tage vergingen, da kamen einige Männer in Trauer mit weiteren Briefen für den Dechanten, in denen zu lesen stand, daß der Bischof verschieden sei, daß sie dabei seien, den Nachfolger zu wählen, und daß sie hofften, die Wahl möge durch Gottes Gnade auf ihn fallen. Sie sagten auch, er solle sich nicht die Mühe machen zu kommen, da es sich viel besser schicke, wenn sie ihn in seiner Abwesenheit wählten.
Zehn Tage vergingen, da kamen zwei sehr wohlgekleidete Schildknappen, die sich ihm zu Füßen warfen und seine Hände küßten und ihm als ihrem Bischof huldigten. Als Don Illán dies geschehen sah, trat er mit großer Freude auf den neuen Oberhirten zu und sagte ihm, er danke dem Herrn, daß so gute Nachrichten in seinem Haus einträfen. Dann bat er ihn für einen seiner Söhne um das freie Dekanat. Der Bischof tat ihm kund, er habe das Dekanat seinem eigenen Bruder vorbehalten, doch sei er entschlossen, ihm eine Gunst zu erweisen, und sie wollten sich gemeinsam nach Santiago aufmachen.
Zu dritt reisten sie nach Santiago, wo sie ehrenvoll empfangen wurden. Sechs Monate vergingen, da erschienen vor dem Bischof Abgesandte des Papstes, die ihm den erzbischöflichen Stuhl von Tolosa anboten und die Ernennung eines Nachfolgers in seine Hände legten. Als Don Illán dies erfuhr, erinnerte er ihn an sein früheres Versprechen und erbat diesen Titel für seinen Sohn. Der Erzbischof tat ihm kund, er habe das Bistum seinem eigenen Onkel, dem Bruder seines Vaters, vorbehalten, doch sei er entschlossen, ihm eine Gunst zu erweisen, und sie wollten sich gemeinsam nach Tolosa aufmachen. Don Illán hatte keine Wahl, als in diesen Vorschlag einzuwilligen.
Zu dritt reisten sie nach Tolosa, wo sie mit Ehrenbezeigungen und Messen empfangen wurden. Zwei Jahre vergingen, da erschien vor dem Erzbischof ein Legat des Papstes, der ihm den Kardinalshut anbot und die Ernennung des Nachfolgers in seine Hände legte. Als Don Illán dies erfuhr, erinnerte er ihn an sein früheres Versprechen und erbat diesen Titel für seinen Sohn. Der Kardinal tat ihm kund, daß er den erzbischöflichen Stuhl seinem eigenen Oheim, dem Bruder seiner Mutter, vorbehalten habe, doch sei er entschlossen, ihm eine Gunst zu erweisen, und sie wollten sich gemeinsam nach Rom aufmachen. Don Illán konnte nicht umhin, einzuwilligen. Zu dritt reisten sie nach Rom, wo sie mit Ehrenbezeigungen, Messen und Prozessionen empfangen wurden. Vier Jahre später starb der Papst, und unser Kardinal wurde von allen übrigen für den päpstlichen Stuhl erkoren. Als Don Illán dies erfuhr, küßte er die Füße Seiner Heiligkeit, erinnerte ihn an sein früheres Versprechen und erbat das Kardinalsamt für seinen Sohn. Der Papst drohte ihm mit Gefängnis und sagte, er wisse wohl, daß er nichts weiter sei als ein Hexenmeister, und daß er in Toledo magische Künste gelehrt habe. Der beklagenswerte Don Illán sagte, er wolle nach Spanien zu rückgehen, und bat ihn um Wegzehrung. Der Papst fand sich nicht dazu bereit. Da sagte Don Illán (dessen Gesicht sich auf wunderbare Weise verjüngt hatte) mit einer Stimme ohne Schwanken: »So werde ich die Rebhühner essen müssen, die ich auf heute abend bestellt habe.«
Die Dienstmagd erschien, und Don Illán sagte ihr, sie solle sie braten. Bei diesen Worten fand sich der Papst in der unterirdischen Zelle in Toledo wieder, nichts Besseres als Dechant von Santiago, und so beschämt über seine Undankbarkeit, daß er nicht Worte fand, sich zu entschuldigen. Don Illán sagte, es sei an dieser Probe genug, verweigerte ihm seinen Anteil an den Rebhühnern und begleitete ihn bis auf die Straße, wo er ihm glückliche Reise wünschte und ihn mit großer Höflichkeit verabschiedete.

(Altkastilischer Text aus einer novellistischen Sammlung des frühen 14. Jahrhunderts)

3 Kommentare:

  1. Über die Konditionierung der damaligen Adressaten:

    Der konstruierte Mann.
    Repräsentation, Aktion und Disziplinierung in der didaktischen Literatur des Mittelalters.

    Autor: Ruth Weichselbaumer

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  2. Ein „trüber Sumpf terminologischer Ungenauigkeiten“ erschwert die Entwicklung einer konsensfähigen Theorie der phantastischen Literatur.

    Hier der Versuch eines Mutigen:

    http://www.rossnagel.com/Arbeiten/Theorie%20der%20phantastischen%20Literatur%20(November%202004).pdf

    Könnte nach diesem Theorieversuch die Verortung des obigen kastilischen Textes aus dem 14. Jahrhundert innerhalb der phantastischen Literatur gelingen?

    Könnte dieser gar als Science Fiction durchgehen?

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  3. Magische Phantastik, das ist Hilfe auf dem Weg zur inneren Wolkenlosigkeit, mit positiven Nebenwirkungen - und fließendem Übergang in das Halbdunkel der tausend Nächte und einer.

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